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Die große Hand

Veröffentlicht am 28.05.2019

Nun ist es mir gelungen, mir das Schönste für meine unerklärliche Herkunft und mein unerklärliches späteres Verschwinden vorzustellen, mir das Universum als eine große Hand vorzustellen, in die ich fallen werde, wie Schnee, ganz weich, und von der ich auch irgendwie gekommen bin, ausgestreut wurde, wie ein Sämling, und ich kann das jetzt wieder das Göttliche nennen, was ich Jahrzehnte lang nicht mehr konnte. Ich kann das jetzt wieder. ...

Ich kann mir wieder eine kraftvolle optimistische Geschichte spinnen, die dort anfängt, wo alle anderen Geschichten aufhören. Ich kann wieder glauben, wo mein Wissen aufhört. Und ja, das ist gut so, sage ich jetzt und wende mich mit dieser neuen Unbekümmertheit dem Leben zu, das nichtsdestotrotz gelebt und sinnvoll gelebt werden will. Warum, weiß ich auch nicht.

 

Es könnte auch ohne Sinn gelebt werden. Es könnte auch unsinnig sein, einfach nur so dahinfließen. Es könnte auch ohne Moral auskommen, die Tiere und Pflanzen haben auch keine. Es ist mir aber irgendwie eingeimpft worden, von wem auch immer, dass es einen Sinn haben soll, dass ich in meiner speziellen Art hier bin, und dass dieser Sinn ein guter sein soll, einer, der nicht eigennützig daher kommt. Mein Sinn soll darin liegen, nicht nur für mich zu leben, nicht nur an meine Freuden zu denken, mein Sinn soll mehr sein als ein Existieren, als ein Vegetieren, als ein Essen und Trinken und Scheißen, wie es ein Zenbuddhist vielleicht kann. Ich bin vom Buddhismus also Lichtjahre entfernt - ich möchte meinen Handlungen eine Bedeutung geben. Ich möchte, dass meine Worte etwas zählen, dass sie ein Gewicht haben, einen guten Einfluss, auf die, die sie hören.

 

Ich habe tatsächlich so ein Gefühl von Verantwortlichkeit. Ich fühle mich verantwortlich für meine Worte und meine Geschichten. Ich messe ihnen große Bedeutung zu, als ob sie eine außerordentliche Wirkung haben könnten, als ob ich eine geladene Waffe in der Hand hielte, die jederzeit töten kann. Dabei ist es dann doch auch die Furcht vor denen, die mich für meine Geschichten beurteilen werden. Eine Furcht vor dem Urteil derjenigen, die über den Wert einer Geschichte befinden in diesem Land, vor den Preisgeld - und Hebel- und Steigbügelhaltern. Während ich mir Gedanken über den Sinn meiner Geschichten mache, über meine Verantwortung, die ich empfinde, weil mir ein gewisses Talent zum Geschichten erzählen, zum Worte machen gegeben wurde, wird sich auf anderer Ebene ebenfalls ständig Gedanken über den Sinn und den Wert von Geschichten gemacht. Wenn ich nun Glück habe, so decken sich unsere Definitionen. Wenn ich Pech habe, liege ich mit meiner Sinnerkennung und meinen Geschichten daneben.

 

Womit ich bereits mitten im Dilemma angekommen bin, das ich besiegen wollte. Da es mir gelungen ist, durch die Hintertür wieder ins Paradies zu kommen, weil ich mir diese große Hand wieder vorstellen kann, in die ich dereinst wie eine Schneeflocke fallen werde, wenn ich diesen Planeten feinstofflich verlasse, bin ich doch eigentlich ganz leicht geworden, ganz unbeschwert. Ich könnte mich jetzt in den Stand setzen, mich selbst befähigen und dem, was ich schreibe, einen ebenso freien Raum erschaffen. Ich könnte mich auch da mit diesem völlig losgelösten Optimismus beflügeln. Ich könnte mir auch da was erfinden, was mich erhebt, was mir die Schwere der Entscheidungen nimmt, was mir tiefstes Vertrauen einflößt. So eine Einstellung, ICH KANN NICHT TIEFER FALLEN ALS IN GOTTES HAND!, wäre doch auch für das Geschichten erschaffen sehr schön. Das wäre die Freiheit, die künstlerische, die ich begrüßen würde. Sie stünde über jeder Ideologie.

 

Ob ich nun denke, dass alles Unglück des Menschen in der ungleichen Verteilung der Güter begründet ist. Ob ich denke, sein Unglück erwächst aus seiner Unfähigkeit, im Angesicht des Todes einen Lebenssinn zu finden. Ob ich die Auffassung vertrete, der Mensch ist dem Anderen immer die Hölle, schon allein deshalb, weil zwei Menschen zwei Willen besitzen, die das Gleiche wollen. Ob ich denke, das Unglück liege in der Unterschiedlichkeit der Geschlechter, in den Zuschreibungen, die daraus entstanden sind. Ob ich dem Fluch des genetischen Erbes alles an Unglück zuschreibe oder den wirtschaftlichen oder politischen Systemen, in denen der Mensch lebt. Das alles wäre darin aufgehoben in dieser allumfassenden Freiheit, die heißen würde: Alles ist richtig und nichts ist richtig. Keine Theorie ist ausreichend in ihren Möglichkeiten unser Dasein zu erklären, unser Leiden zu erklären, unsere einzigartigen Lebenswege zu erklären. Mir ist es jedenfalls noch nicht gelungen, mich auf eines dieser vielen Erklärungsmuster festzulegen. Mir damit alles erklären zu können, mich damit dann für allezeit zu beruhigen. Mir ist jeder Ansatz ein interessanter, dem ich eine Weile gedanklich folge, bis er seine blendende Wirkung verliert. Und so muss ich immer weiter suchen. Und so kann, wie bei den Fragen nach dem woher und wohin, nur in der Freiheit des Denkens, in seiner optimistischen Ausprägung  die Lösung liegen.

 

Ich sollte wild und frei sein im Denken.

 

Alle philosophischen, alle ästhetischen Überlegungen, alle Gedanken zu Form und Inhalt einer Geschichte sind in einzelnen Köpfen in bestimmten Zeiten entstanden. Sie haben ihre Bedeutung zweifellos, aber sie sind wie Wind. Sie kommen und gehen. Auch ich bin gekommen und werde gehen. Und der Sinn meines Schreibens ist ein flüchtiger und einer, der sich jedesmal neu ergibt. Der sich in jeder Geschichte erst heraus bildet. Der Sinn meines Schreibens ist ein permanentes Suchen, dem ich Zwischenergebnisse abringe.  Die Fragen sind vielfältig, die ich mir stelle, denn das Leben ist wirr.