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Nach Weihnachten

Veröffentlicht am 27.12.2004

Gestern fuhren wir mittags mit der Straßenbahn, der neuen M1-Linie zum Endbahnhof Rosenthal Nord. Der Himmel spannte sich wie ein hellgrauer Vorhang über eine im kalten Nieselregen erloschene Landschaft. Schwarz starrten die Skelette der Bäume, farblos die Gärten und Plätze. Rosenthal war die pure Tristesse und erzählte von einer schöneren Abgeschiedenheit, als es noch ein märkisches Örtchen war, mit Kirche und Alleen und klassizistisch verzierten niederen Häusern mit backsteinernen Gehöften dahinter. Jetzt steht vieles zum Verkauf,

vor den heruntergekommenen Grundstücken prangen Schilder, die den Zutritt verbieten. Ausgebrannt verharren die Brennesseln unter verwachsenen knorrigen Bäumen und der Ruin scheint nicht erst diesen Winter eingezogen zu sein. Dann Schrebergartenanlagen mit diesen kleinen Wohnhäusern, den Teichen und Wasserbecken und Hüttchen und Rosenbögen am Eingang, kleine Landstücke eines Paradieses, das hier im Osten mitten drin zu finden war. Auf wenigen Quadratmetern, selbst gebastelt und improvisiert. Wir suchen den botanischen Volkspark und sehen doch nur eine märkische Steppe vor uns, verblasste gelbe Stauden auf einer morastigen Wiese und wenige Spaziergänger im tristen Grau. Wir gehen hier nur herum, weil wir uns dann wieder umso lieber in unserer kleinen Dachwohnung verkriechen, wo es warm ist und gemütlich und Bücher auf uns warten und die letzten Reste vom Weihnachtsbraten. Frische feucht-kalte Luft gibt es reichlich hier. Der Weg allerdings wird bald zu einem Pfad und führt uns in ein Waldgebiet, an moorigen Tümpeln vorbei. Auf verschlungenen Pfaden nähern wir uns dem botanischen Volkspark, der an diesem trüben Wintertag nicht sonderlich exotisch wirkt. Zwei Glashäuser beherbergen, kaum sichtbar von draußen, karibisches Grün. Eine dicke Palme steht in einem, im anderen sehe ich nur nackte stammdicke Äste, die von einem Urwaldgewächs zeugen könnten. Rasenflächen mit kreisrunden Erdhügeln erzählen von einem blühenden Garten zu anderen Zeiten, kleine Täfelchen benennen die Bäume und Sträucher, die an einem mit rotem Kies ausgestreuten Weg entlang gepflanzt sind, der uns zur geologischen Wand führt. Ein Steinwall, in dem, so sagt es die Schautafel, sämtliche Gesteine der Erde aufgeschichtet sind. Zu viel für unseren Laienblick. Es ist halb vier und wird bald gänzlich dunkel werden. Heute ist bestimmt der kürzeste Tag dieses Jahres. Wir peilen den Rückweg an, gehen an einem See entlang, auf schwarzer schmieriger Erde, immer knapp am matten Schilf vorbei, immer leicht am Rutschen und Balancieren über gefallene tote Bäume. Doch dann enden wir an einem Zaun und an einem mit Entengrün bedeckten Graben, weswegen wir nicht auf den Weg über die Wiesen gelangen. Wir müssen den mit Schilf umwachsenen See ganz umrunden, weiter den modrigen rutschigen Pfad, haarscharf am Ufer entlang. Es ist inzwischen dunkel geworden, wir sehen alles verschwommen, ein Schritt zu weit rechts wäre jetzt wirklich nicht ratsam, wir gehen schweigend, als Moorleichen enden wollen wir nicht. Es gnätschen und gnatschen die Schritte, doch dann steigt ein Fischreiher auf, verstört, dass wir da sind, und plötzlich ist da einfach ein Zaun und ein Tor, das offen steht. Wir treten hindurch, gehen den Pfad durch den Wald zurück und über die toten Wiesen auf die Schrebergartenanlage zu. Rosenthal liegt unter nächtlichem Nieselregen noch genauso schauerlich da. Zwischen den alten Häusern prangen Neubauten, aber sie schaffen es nicht, etwas Dynamisches auszustrahlen. Sie wirken wie auf verlorenem Posten, an eine holprige Kopfsteinstraße gebaut, auf der noch immer mehr Leben aus- als einzuziehen scheint. Wir gehen die Straßenbahnschienen entlang, bis die Straßenbahn kommt, damit wir sie ja nicht verpassen.