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Mutter

Veröffentlicht am 01.03.2009

Sie weiß jetzt, wie das ist, Mutter zu sein. Sie weiß es, aber es fällt ihr schwer es zu benennen. Je länger sie Mutter ist, umso mehr fehlen ihr die Worte für komplexere Zusammenhänge. Sie kann auch kaum mehr längere Sätze verstehen, in denen es um abstrakte Gedanken geht. Heute Morgen las sie so einen Satz,

in dem es um das Wissen des Unbewussten und des Bewusstseins, um Leib und Seele und den Atem des Kindes ging, -es war eine Kurzzusammenfassung von Rudolf Steiners Philosophie -, und sie musste den Satz zweimal lesen, laut lesen, ehe sie ihn begriff. Früher, als sie studierte, liebte sie solche Sätze, die Begrifflichkeiten der Philosophie vor allem, sie liebte es, lesend den Tag in der Bibliothek zu verbringen, auf einem harten Stuhl an einem kleinen Tisch, inmitten der anderen Studenten. Jetzt schrieb sie sich kleine Listen, mit denen sie sich an so Sachen wie „Lätzchen besorgen, Brot, Milch, Kartoffeln, Dill, Fotos von Eva machen, Impfbuch mitnehmen“ erinnerte. Das Muttersein hatte sie, schneller und radikaler, als sie es sich vorgestellt hatte, zu einer den Haushalt führenden Pflegerin gemacht, die auf die existentiellen Dinge des Lebens, die gleichwohl recht banal waren, programmiert war. Die Sättigung des Kindes und seine Verdauung, sein regelmäßiger und ausreichender Schlaf, sein angemessenes Angeregtwerden, die fortlaufend anfallende Wäsche, die sich rätselhaft andauernd vermehrenden Staubflusen in der Wohnung, der tägliche Abwasch, ihr unentwegter eigener Hunger, ihre Müdigkeit, all das beschäftigte sie nahezu rund um die Uhr und selbst wenn sie es schaffte, ein Buch aufzuschlagen oder in eine Zeitung reinzuschmökern, so wusste sie doch bald schon nicht mehr, was sie eigentlich gelesen hatte. Es gab keinen Nachhall, kein Nachdenken darüber, so wie sie es von früher kannte. Die Welt und die Geschehnisse in der Welt rückten von ihr ab. Als wäre sie in einem Kokon, spürte sie sich in einer eigenen Welt, die nur noch mit den anderen Baby-Mütter-Kokons verbunden zu sein schien. In dieser sich letztlich unaufhörlich um ein zufriedenes Babylächeln sich drehenden Welt war sie ohne Vergangenheit und Zukunft. Sie existierte als Wärme und Stütze, als Stimme und Stimmenimitation, als schützender Körper, als Nahrungsquelle und Ruhe, als Stimulantin und Gesang, als Geräusch und Antriebsmotor für ihr Baby. Dem war es erst einmal egal, wer sie war, was sie alles in ihrem Leben gemacht hatte, was sie gerade vermisste. Es verlangte von ihr (und würde es in zunehmendem Kindesalter immer weiter verlangen) positive Schwingungen, Zärtlichkeit, Liebe, Geduld. Sie wusste, es würde Entwicklung bedeuten. Sie war noch nie wirklich geduldig gewesen. Das musste sie lernen mit ihrem Kind. Auch Langsamkeit und Ruhe und Banalität ertragen zu können, würde nun eine Lektion sein. So wie das Kind langsam heranwuchs, würde aus ihr eine andere werden.