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Im Hof

Veröffentlicht am 12.03.2013

Ich sitze im Hof auf den von der Sonne erwärmten Steinplatten, zwischen Haus und Schuppen, ich habe mich da vermutlich selber hingesetzt, denn ich bin sehr damit einverstanden, so da zu sitzen, so alleine, ich habe überhaupt nicht die leiseste Empfindung einer Angst oder eines Verlassenseins in mir. Im Gegenteil, es ist der reinste Genuss, mich meinem Interesse an den Ritzen zwischen den Steinplatten ungestört hingeben zu können. Ich pule die weiche kühle Erde aus einer Fuge vor mir und stecke diese kalte braune Creme in den Mund. Es schmeckt nicht nach Eis, wie ich möglicherweise dachte, und vielleicht bin ich enttäuscht und spucke das braune Zeug, das zwischen meinen Milchzähnchen knirscht, wieder aus und weil es nicht weit genug heraus gespuckt werden kann, wische ich die schmierigen Klümpchen, die nun an meinem Mund hängen, mit meinen dicken kleinen Händen wieder ab, jedenfalls versuche ich das. Oder ich versuche es nicht

 und finde den Geschmack von kühler fetter Erdencreme gar nicht so schlecht, jedenfalls interessant genug, um sie eine Weile im Mund zu behalten, und vielleicht bin ich ja als nächstes an einem der weißen kleinen Steinchen interessiert, die ich in den Fugen entdecke und die so schön unter den zarten Gräsern des ersten warmen Frühlingstages hervor glitzern. Ich kratze also ein solches Steinchen heraus und man müsste mein Gesicht sehen, ich bin hochkonzentriert und höchstzufrieden, und jetzt schaue ich mich doch kurz einmal um und ich sehe zur hinteren Treppe, ob da vielleicht schon meine Mutter oder mein Vater oder meine ältere Schwester in ihren Sonntagskleidern herunter kommen. Ich bin ganz stolz auf mich, dass ich es geschafft habe, dieses schöne weiße Steinchen auszugraben und ich würde es ihnen jetzt gerne zeigen, bevor ich es in meinen offen stehenden Mund stecke. Aber es ist niemand da, der sich mit mir freuen könnte und wenn der Tag nicht so vielversprechend wäre, die Steinplatten nicht so herrlich warm und die Vögel nicht so munter im Garten hinter dem Haus zwitschern würden, wenn es nicht so angenehm hell und mild und mir nicht alles so vertraut wäre, die Kirchenglocken, die jetzt anfangen zu läuten, der Schuppen mit dem aufgestapelten Brennholz und den Hasenställen, die Hauswand mit ihrem vanillefarbenen Glattputz, die Waschbetontreppe hinter dem Haus, der Geruch der Hasenköddel und des Streus in ihren Ställen und das leise Knistern des Brennholzes, das die Sonne erwärmt hat, wenn mir das nicht alles so angenehm und vertraut wäre, dann wäre dies der Moment, an dem ich die Luft anhalten und das Steinchen seine Magie augenblicklich verlieren würde. Nichts jedoch ängstigt oder verunsichert mich. Ich nehme das Steinchen und lutsche daran und kaue darauf herum und es fühlt sich hart, aber schön glatt und vor allem kühl an. Und bekommt man an so warmen Sonntagen nicht sowieso immer etwas Kaltes und manchmal ein Eis zum lutschen, denke ich, wenn ich das schon denken kann, und ich schiebe das Steinchen in eine Backentasche und halte Ausschau nach weiteren Steinchen. Und da kommt endlich Anne, das ist meine ältere Schwester, und als sie mich da sitzen sitzt, schreit sie, Mamaaaa, die Tine isst schon wieder Drääähäck, sie schaut mich mit ihren drei Jahren in ihrem makellosen rosaweißkarierten Kleid und mit ihren weißen Kniestrümpfen Kopf schüttelnd an und rennt zurück zu den Treppen hinter dem Haus. Ich habe, so ist es wahrscheinlich, das gleiche Kleid für Zweijährige an, ein sauberes gebügeltes, von meiner Mutter selbst genähtes Kleidchen und weiße Söckchen und hellgelbe Schuhe dazu. Ich habe, gut möglich, zwei kurze Zöpfchen in meinem hellblonden Haar, ein Hütchen vielleicht auf dem Kopf, denn es ist Sonntag und da gehen wir oft in die Kirche und ihre Glocken läuten ja schon, und am Sonntag zur Kirche waren wir immer besonders gekleidet und zwar genau so, dass man am besten wie ein Engel über die Häuser ins Kirchenschiff geflogen wäre, um rein und sauber zu bleiben. Nun kommt meine Mutter die Treppen herunter und dann erscheint auch mein Vater auf dem Treppenabsatz, in einem hellgrauen Anzug und spitzen polierten Schuhen, und alle schütteln mit enttäuschten Gesichtern den Kopf und meine Mutter ruft „Jetzt schaut euch das an! Das darf doch alles nicht wahr sein!“ und läuft zu mir her und reißt mich hoch an den Achseln und ich sause durch die Luft an meiner Schwester vorbei die Treppen hinauf und weil meine Mutter die Stufen so ruckartig nimmt, rutscht mir das Steinchen die Kehle hinunter und ich beginne zu husten und huste ihr braune Erdencreme auf ihre Bluse, die sicher bis eben noch blütenrein weiß war, und in diesem Moment packt mich mein Vater von hinten, irgendwo tiefer, an meinem Rumpf, und stimmlich ist meine Mutter eine Oktave höher gerutscht, es scheppert, als sie zu schreien beginnt, jetzt sei Sonntag und alles sei ja wohl wieder gelaufen, ihr reiche es jetzt schon, sie könne nicht mehr. Mein Vater hält mich und dreht mich und sieht in mein blutrotes Hustegesicht und legt mich dann schnell über sein Knie und schlägt mir mit flacher Hand über den Rücken, in Richtung Nacken, ich huste und würge, bis Klack Klack Klack das Steinchen die Treppe, Stufe um Stufe hinab hüpft. Ich bin jetzt voll Schleim und schmieriger Spucke und voller Tränen in meinem Gesicht und einen Moment lang ist es mucksmäuschenstill, die Glocken läuten nicht mehr, die Vögel verstummen, kein Auto knattert mehr durch unsere Stadt, dann endlich hat mich der Schrecken erreicht, ich weine und schniefe und habe die Arme hoch, der Mutter entgegen gereckt, ich rufe „Mama“ und „Mamaaaaaaahaha“, bis sie mich nimmt und mit mir rein geht, bis sie mich auf ihren Arm nimmt und tröstet und drückt und mir den Schleim und den Schnodder abwischt, bis ihre Stimme, ihr Herzschlag und ihre Berührungen wieder normal, sanftmütig, ruhig sind. Dann zieht sie mich um und zieht auch sich um, während ich neben ihr stehe. Ich will jetzt nämlich gar nicht mehr weg, keine zehn Millimeter will ich mehr weichen, ich bleibe jetzt bei ihr, ich habe gerade genug von dieser harmlos erscheinenden, wundervoll wirkenden, aber doch irgendwie unkalkulierbaren Welt. Ich verstehe auch nicht, warum etwas Schönes, was eben noch reiner Genuss war, für alle anderen Menschen in meinem Kosmos ein Ärgernis ist. Ich wollte doch niemanden ärgern. Schon gar nicht meine Mama, weil Mama doch immer, wenn sie sich ärgert, das Lächeln vergisst und ihre Hände dann nicht mehr sanft und fürsorglich sind.