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Eine andere Art von Ameise

Veröffentlicht am 05.10.2016

In den Schulferien, als wir uns in den wesentlichen Dingen des Lebens (Schlafen, Essen, die Umgebung erkunden) üben durften, in dieser begrenzten Zeit, in der wir nichts als uns selbst und die Sterne und Grillen, die schwankenden Wellen des Meeres, drückende Hitze und vollkommene Dunkelheit erlebten, hatte ich plötzlich diesen Gedanken, einem Ameisenstaat für wenige Wochen entkommen zu sein. ...

 Jetzt sind die Ferien vorüber und jede Ameise ist wieder aktiv, zurück in der Reihe, in ihrer Funktion. Wir bringen die Kinder wieder zur Schule, strampeln durch den nervösen Morgenverkehr, strampeln dann weiter zu unserer Arbeit, strampeln mit unseren Kindern oder später am Abend alleine nach Hause, wo wir die Brotdosen säubern, die Taschen umpacken für unseren nächsten Ameisentag. Jede Minute des Tages hat ihren Zweck und auch wenn wir meinen, Pause zu machen, auch wenn wir schlafen, ins Sportstudio gehen, auch wenn wir chillen, dienen wir unserem Ameisenstaat. Wir sind es gewohnt, dass unser Leben Arbeiten heißt. Unsere Freizeit hat ihren Zweck in unserer Erholung. Sie dient dem Erhalt unserer Ressourcen. Und dazu uns nicht nur als Leistungserbringer zu fühlen.

Ich frage mich, ob uns das gut tut, uns Deutschen, so über die Maßen fleißig zu sein. Der Wirtschaft gefällt das, das wir so sind. Dass wir so brav den Vorgaben folgen. Dass wir unsere Kinder von klein auf schon drillen. Dass wir sie fördern, wo wir nur können. Und dass wir (fast) alle, so viel wie möglich (oder wie nötig) arbeiten gehen. Und dass von uns viele was aufbauen wollen, ein Haus bauen, Firmen gründen, durchstarten wollen. Und dass wir dabei auch immer hervorragend aussehen wollen, tiptop gekleidet und immer in Form, dass wir gehaltvoll essen, jährlich verreisen, uns weiterbilden, in mehreren Sportarten uns austoben wollen. Dass wir die Autos auch kaufen, für die wir am Band stehen. Dass wir die CeBit besuchen. Dass wir die Smartphones und Bildschirme lieben. Das findet die Wirtschaft alles sehr gut. Das stellt auch von uns kaum jemand in Frage. So war es, so ist es und so wird es sein. So sind wir erfolgreich.

 

Doch sind wir so glücklich, das frage ich mich, und das nicht erst, seit ich mich mit Hassan aus Syrien treffe. Dass wir uns häufig selbst überfordern, dass wir uns auf den Karriereleitern selber verloren gehen, dass wir ausbrennen, vereinsamen und nicht selten unerfüllt bleiben, das habe ich an mir und an anderen schon zur Genüge erfahren. Mit Hassan aus Syrien kommt nun aber eine Perspektive dazu, die vorher nicht da war. Die Perspektive eines Moslems, eines religiösen Menschen aus einer arabischen Kultur, eine andere Weise zu leben und das Leben zu sehen. Ich bin Hassans Mentorin, so nenne ich mich offiziell bei Behörden, ich war Hassans Deutschlehrerin. Ich bin aber schnell eine Freundin von ihm geworden und versuche ihm nun, die Regeln in unserem Ameisenstaat zu erklären. Ich fände es schön, wenn ihm sein Leben bei uns gelänge.

Ich muss aber lernen, dass Hassan auch mittags seinen ihm heiligen Schlaf braucht. Lerne, dass ihm das Gebet fünfmal am Tag ein wichtiger Fels ist, wo sich schon alles gerade verschiebt und verwandelt. Und lerne, dass er in vielen Belangen nicht wirklich so selbständig ist, wie ich’s mir wünsche. Vielleicht noch nicht sein kann. Vielleicht niemals war. Und lerne, dass er ein sehr emotional geleiteter Mensch ist. Und sehe, wie wichtig ihm offene Augen und Berührungen sind, wie wichtig die Freunde, die ihn unterstützen, wie er uns alle als seine Brüder und Schwestern betrachtet. Ich weiß, von welchem Beruf, von welchem Leben er träumt, bei uns im fleißigen Deutschland, und weiß nicht, ob dieser Traum sich für ihn erfüllt. Ob er die Ameise ist, die wir hier brauchen.

Er wird vielleicht als Ameise nie so gut funktionieren wie wir, die wir nichts anderes kennen. Er wird vielleicht eine andere Art von Ameise sein. Eine, die Mittagsschlaf macht. Eine, die betet und ihre Arbeit dafür unterbricht. Eine, die manchmal unpünktlich ist. Eine, die sich manchmal verweigert, wenn alles zu viel wird. Eine, die lieber mal feiert mit ihren Freunden als fleißig zu sein. Eine, die viele Kinder in diese Welt bringen wird, weil Kinder für sie das Wichtigste sind. So sehr wir ihn fördern und fordern, er wird nicht so werden wie wir. Und das irritiert uns. Es stellt uns in Frage.

Und manche beginnt das zu ärgern. Sie sagen: Wir schuften, er schläft. Sie sagen: Wir sitzen in Meetings, er betet. Sie schimpfen: Wir haben zwei Kinder und er kriegt mal fünf. Sie jammern: Wir müssen nachts schlafen, während er feiert. Sie analysieren: Wir trinken Wein und Bier, damit wir am Ende des Tages entspannen, wir brauchen fünf Kaffees während des Tages. Und was macht er? Er schläft und er betet. Sie brüllen. Wir zahlen gerade sein Leben und was zahlt der Kerl uns, wenn’s gut läuft, von allem zurück?

 

Ameise sein ist manchmal ziemlich frustrierend.