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Wohlstand

Veröffentlicht am 29.11.2005

Nein, wir sind hier nicht im Erdbebengebiet im Kaschmir, auch nicht bei einem Chiphersteller in China oder in Russland auf der Verliererseite. Wir sind hier, in Deutschland, wo es allen noch vergleichsweise gut geht. Ich müsste also entspannt und zufrieden sein.

Sei dankbar über das, was du hast, sage ich mir. Und es ist viel, wofür ich dankbar sein müsste. Unsere Wohnung ist warm, der Kühlschrank mit größtenteils gesunder Nahrung gefüllt, die Betten bequem. Wir haben genug Zeit, um darin zu schlafen und genug Zeit, um uns zuhause ein Essen zu kochen. Wir können sogar nach dem Essen abends die Beine hochlegen und lesen oder fernsehen. Die Waschmaschine wäscht unsere Wäsche, unsere Winterkleidung ist vollständig, wir frieren nicht. Wir sind gesund. Wenn wir uns krank fühlen, gehen wir in die nächste Apotheke und holen uns Medizin. Oder wir gehen zu einem Arzt. Ich lasse mir eine Brille verschreiben und werde mir ein Modell aussuchen und auch das kann ich mir leisten. Wir können uns neue Schuhe und Einlegesohlen leisten. Wir leisten uns frischen Fisch und Fleisch aus artgerechter Tierhaltung. Wir leisten uns Vorsorgeuntersuchungen und Bücher und Kerzen und Weihnachtsgeschenke. Ich kann mich nicht darüber beschweren, dass wir dafür arbeiten müssen. Dass unser Denken von der Sorge bestimmt ist, Arbeit zu haben und ausreichend Geld zu verdienen. Dass wir den größten Teil unserer Gedanken diesem Thema widmen müssen. Dass wir uns permanent Projekte, Aufträge und Kontakte auftun müssen, dass wir verhandeln und um unser Geld kämpfen müssen, dass wir von morgens bis abends damit beschäftigt sind, genügend zu arbeiten, um genügend Geld zu verdienen, um uns all das leisten zu können, was in unserer Gesellschaft für selbstverständlich gilt. Überall auf der Welt und noch viel mühsamer und ungeschützter und aufzehrender müssen die Menschen ihre Arbeitskraft verkaufen. Die Mühen, die wir aufwenden müssen, sind nichts gegen die Mühen, die ein russischer Bergarbeiter, ein chinesischer Garkoch oder ein afrikanischer Minenarbeiter aufbringen muss, um sich und seine Familie zu ernähren. Wir arbeiten acht bis zehn Stunden, vielleicht auch mal zwölf Stunden an einem Tag, wenn es sein muss, wenn es die Lage erfordert. Meistens haben wir einen Tag in der Woche frei. Manchmal zwei, wenn wir es uns erlauben. Wenn wir an allen sieben Tagen arbeiten müssen, empfinden wir das als Belastung. Wir fühlen uns unfrei und haben das Gefühl, dass wir uns nicht mehr richtig erholen können. Der chinesische Garkoch kennt es gar nicht anders. Er arbeitet ständig durch. Von unserer Freizeit, von der wir annehmen, dass sie uns zusteht, erwarten wir viel. Wir wollen gesellschaftlich etwas erleben, wir wollen Sport machen, wir wollen uns mit kulturellen Dingen beschäftigen, wir wollen raus in die Natur, wir wollen unsere Ruhe, wir wollen gut essen, noch besser, als wir es in der Woche getan haben. Wir telefonieren mit unseren Eltern, schlafen länger, gehen einkaufen, lesen, kochen, essen mit Freunden. Immer haben wir das Gefühl, dass uns eigentlich noch mehr freie Zeit zusteht. Dass wir selbst noch in unserer freien Zeit gehetzt sind, dass wir nie alles tun können, was wir tun wollen. In unserer Freizeit wollen wir uns ablenken und gleichzeitig bei uns ankommen, wir wollen Freunde treffen und endlich mal alleine sein. In unserer Freizeit erkennen wir immer wieder, dass wir nicht vollkommen glücklich sind. Dass etwas offen bleibt. Dass alles flüchtig ist. Dass alles kommt und geht. Ich weiß nicht, wo das her kommt, dieses Bedürfnis, zu sich selbst kommen zu wollen. Vielleicht haben wir noch eine genetisch in uns bewahrte Erinnerung an ein prähistorisches Leben, wo wir als Affen auf einem Baum hockten und einfach nur da saßen und nichts anderes taten, als in den Dschungel zu schauen, wo wir saßen und dösten und schauten und sonst einfach nichts. Warum sonst empfinden wir dieses Leben, das doch im Vergleich zu vielen anderen ein bequemes und geschütztes Leben ist, dennoch oft als etwas, was uns stresst und wenig glücklich macht?