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Rente

Veröffentlicht am 18.01.2006

Gestern war ich bei der deutschen Rentenversicherung, um mein Konto zu klären. Seit einem halben Jahr lag die Aufforderung, dies zu tun, bei mir auf dem Schreibtisch und ich ahnte schon, dass dies kein besonders erbaulicher Termin werden würde.

Nach der Aufforderung war ein Bescheid gekommen, auf dem nicht sonderlich viel an zu erwartender Rente ausgewiesen war und die wenigen Beitragszeiten, die noch nicht verrechnet waren, würden die Sache auch nicht viel besser machen. Ich hatte dann aber, als ich mich endlich aufraffte, nicht nur einen Kontenklärungs-, sondern auch einen Beratungstermin gemacht und erhoffte mir, ein paar erhellende und ermutigende Tipps zu bekommen. Herr Albrecht von Zimmer 444, mit dem ich das Vergnügen hatte, war aber nicht sonderlich daran gelegen, mich zu ermutigen. Der blasse Mittfünfziger mit dem schütteren Haar, der als Beamter der Rentenanstalt schon längst seine Schäfchen im Trockenen hatte, saß mir in seinem pastellgelben Pullover äußerst wortkarg gegenüber und war erst einmal nur an Fakten und Papieren interessiert. Sein Tisch war groß und leer genug, so konnte er meine Zeugnisse und Bescheinigungen, meinen Antrag und die zusätzlichen Formulare in mehreren Haufen um sich herum auslegen. Für jeden noch nicht belegten Lebensabschnitt überreichte ich ihm ein Papier und noch eins und noch eins, woraus hervor ging, was ich in der ganzen Zeit getrieben hatte. Als Herr Albrecht mich mit einem Stoß Originale verließ, um diese zu kopieren, hatte ich Gelegenheit, mir sein Büro, von dem es in diesem Gebäudekomplex hunderte im gleichen Stil geben musste, umzusehen. Herr Albrecht verfügte über besagten großen L-förmigen Schreibtisch, über einen PC, einen Drucker, über einen geschlossenen und einen offenen lichtgrauen Schrank sowie über drei Topfpflanzen. Seine persönliche Note, seine Unverwechselbarkeit, die sein Büro mit der Nummer 444 von allen anderen Büros unterschied, hatte er mit wenigen Fotos und Slogans zur Geltung gebracht. Herr Albrecht schien das alte Paris zu mögen. Über dem Unterschrank, in dem ein paar dicke Bände mit Gesetzestexten locker voneinander weg rutschten, hatte er ein altes Foto vom Bau des Tour Eiffel aufgehängt und daneben das Foto eines Zugunglücks am Bahnhof von Montparnasse, wo eine alte Dampflok in die Tiefe gestürzt war. Neben diesen Fotos, die Herrn Albrechts Interesse für Technik, aber auch einen Hang zur Nostalgie zu erkennen gaben, hängte eine Comiczeichnung von Karl Marx. Der alte Marx war mit wallendem Haar und Bart und roter Weste dargestellt und stand wie ein schmähbäuchiger Scharlatan da, darunter waren seine Worte „Tut mir leid, Jungs, war halt nur so ne Idee von mir“ gekritzelt. Aha, dachte ich, Herr Albrecht macht sich wohl gerne lustig über Utopisten, über Leute, die bestehende Verhältnisse ändern wollen. Dann aber entdeckte ich auf der gegenüberliegenden Wand Sprüche, die den Beamten Albrecht eher in eine aufrührerische Ecke rückten. „Nur tote Fische schwimmen mit dem Strom“ stand dort und darüber „Je mehr Bürger mit Zivilcourage ein Land hat, desto weniger Helden wird es einmal brauchen“. Das fand ich nun doch erstaunlich und sympathisch und so erwartete ich Herrn Albrecht, der übrigens unüberhörbar ein echter Berliner war, mit großer Erwartung zurück. Nach dem Papierkram würden wir uns sicherlich gut unterhalten und er würde mir mit zwinkerndem Auge und mit viel „dette“ und „nischt“ vielleicht sogar ein bisschen Geheimwissen zuspielen, mit dem ich diese schnöde Gelegenheit mit der sicheren Rente gutgelaunt würde abhaken können. Doch als Herr Albrecht wieder kam, die Kopien zusammen geheftet, sämtliche Stempel aufgestempelt und die Empfangsbestätigung ausgefüllt und unterschrieben war, verlief das folgende Beratungsgespräch doch leider sehr enttäuschend. Ernst und mahnend sprach er davon, dass bei mir nicht mehr viel zu holen sei. Meine Rente entspräche der Hälfte eines Sozialhilfesatzes und es bestünde keine Aussicht, dass sich das nochmals ändern würde. Nun, sagte ich, es sei denn, ich würde in Zukunft mehr einzahlen, und, sagte ich, mir wäre doch klar, dass ich noch zusätzlich etwas tun müsse. Da fing er an, über die unwägbaren Risiken von Investmentfonds zu sprechen, nee, dette wäre doch nischt, man bräuchte doch watt, watt man im Alter sicher zur Verfüjung hätte. Ick sollte mir det mal mit der Riesterrente überlejen, da müsstense, er fing an zu rechnen, da müsstense nJahresbeitrag von 156 Euro bezahlen, denn könntense vom Staat den Zuschuss abschöpfen, also det sollte man sich doch nich durch die Lappen jehn lassen. Na gut, sagte ich, das ist ja toll, nur wirklich viel wird dabei ja auch nicht rüber kommen, und ich müsste mir nach wie vor noch was überlegen. Da fing er wieder an von den Gefahren und Risiken von Investmentfonds zu palavern, da ham sich schon viele umjeguckt, die ham sich nich jekümmert, den Jewinn nich rechtzeitig abjeschöpft und denn hattense nischt mehr, nee, det wär nischt für ne Altersvorsorje. Je mehr Herr Albrecht sich gedanklich auf dieses unsichere Terrain begab, umso mehr fing er an, mit seinen langen Armen herum zu fuchteln und sein graues Gesicht durchzuckten tatsächlich ein paar müde Regungen. Doch er begann bereits, Schleifen zu drehen, bei dem Thema hohe Gewinne die Arme hochzuwerfen und beim Thema Kurseinbruch die Arme herunter, immer tiefer, bis unter seinen Schreibtisch zu reißen und nachdem ich mir diese Eurythmie eine Weile angeschaut hatte, packte ich meine Papiere ein und ging. Ohne Handschlag verließ ich das Zimmer 444, ging lange Flure entlang, durchquerte kalte Treppenhäuser, dann Flure und nochmals Flure und passierte schließlich noch einmal den Empfangs- und Wartebereich, der wie ein Flughafenterminal aussah. Dort hatte ich vor einer knappen Stunde selbst noch gesessen und die beachtlichen Zimmerpflanzen und das kleine Muschelmuster auf dem Teppich angestarrt. Durch die Lautsprecher war die Stimme von Kate Bush zu hören gewesen. Kate Bush und die deutsche Rentenversicherung, das passt ungefähr so zusammen wie die beiden Wände in Herrn Albrechts Büro.