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Luzern

Veröffentlicht am 30.01.2008

Heute Nachmittag ging ich durch den Wald hinter dem Huobenfang. Es war ein trüber Tag mit Nieselregen, an dem ich nicht mal die Berge, die sonst diese Landschaft einrahmen, zu Gesicht bekam. Viel zu warm, 11 Grad hat es. Ich ging über den kalkig schmierigen Weg, der über die Schlucht führt und folgte dem Vitaparcour, einem Trimmdichpfad, ein Stück dem Bachlauf entlang. Es ist kein Wald, der mir Freude macht, das wusste ich schon vom letzten Mal, als ich mit H hier entlang gegangen war. Glücklich, von D’s Haus einfach loswandern zu können, drangen wir in diesen Wald ein, um schon bald das Rauschen der Autos auf der Autobahn zu hören, deren Betontrasse, eine riesige Schlange auf Stelzen, sich über die Waldhänge, Bäche und Flussläufe windet.

Ich konnte mich auch heute, als ich darauf zuging, nicht damit abfinden und es gab kein stimmiges Bild für mich. Der wie von einem Haarausfall befallene Wald, der um seinen Namen ringen muss und mittendrin dieser Koloss aus Beton, diese massigen Stützen unten den Fahrbahnschalen, dieses graue Ungetüm, das unter sich einen kalten Schatten hinterlässt, um das sich kein Efeu winden mag, an dem sich kein Moos festhalten will. Es steht, die lächerliche Natur um sich ignorierend, wie eine graue Eminenz für sich alleine da und scheint für eine längere Ewigkeit als der Wald vorgesehen zu sein. Es scheint ihn überdauern zu wollen, ihm sagen zu wollen: „Du bist mir egal. Jetzt regier ich!“ Der Wald ging um ihn herum in die Knie. Die größten aller Bäume, die ältesten und vermutlich schönsten, alle anderen überragenden und von Würde und Alter und Beständigkeit erzählenden Bäume waren vor kurzem gefällt worden. Noch waren die Baumstümpfe orange und hell und noch nicht von Würmern und Pilzen befallen. Der Schnitt war noch frisch, ein zweigeteilter Schnitt, an dem man die Technik der Holzfäller erkennen konnte. Zuerst wurde der Baumstamm in Fallrichtung bis zur Mitte eingesägt, dann setzte man die Säge auf der Hangseite an und sägte etwa zwanzig Zentimeter tiefer. Vermutlich kann man so den Sturz der Bäume bestimmen, die in diesem Fall in die Schlucht hinunter gefallen sein müssen. Nun stehen diese Stümpfe wie Stühle mit Rückenlehnen da und an älteren Stämmen hat sich schon Moos wie ein Polster oder Bezug darüber gezogen. Es gibt auch Stümpfe, aus denen man Kunstwerke geschnitzt hat. Ich habe einen betenden, auf seinen Vorderfüßen stehenden Igel gesehen, einen buckligen Kobold mit großen Augen und einen Mann mit wallendem Haar und markantem Gesicht. Aber diese lustigen Mahner haben mich keineswegs fröhlich gestimmt. Beim Anblick der frischen Stümpfe und der Holzpolter, wie es hier heißt, der großen Haufen aus Ästen und zersägten Stämmen, des noch grünen Reisigs, das wie die übrig gebliebenen Hautfetzen der Waldriesen auf dem Waldboden liegt, bei diesem Anblick und dem Rauschen der Autobahn, dem man kaum entkommen kann, hat die Natur hier all das verloren, weswegen ich sie, aus der Großstadt kommend, immer wieder suche. Sie ist nicht mehr der unveränderliche Fluchtpunkt, an den ich jederzeit zurückkehren und auftanken kann. Sie ist nicht unberührt, abgeschieden, erhaben und erhebend, oder schroff und wild und nicht einmal mehr die Illusion von all dem. Die Natur hier ist etwas, was ich mit dem Ausschnittsvergrößerer einer Kamera als unberührten Flecken suchen muss. Gerade hier in der Schweiz erscheint es mir so. Hier führen die dicht ausgeschilderten Wanderwege einen Bachlauf durch eine Schlucht entlang, dann durch eine Siedlung, in der die Äcker zwischen den einstmals einsam stehenden Bauernhöfen mit modernen Mehrfamilienhäusern gefüllt werden, dann geht’s durch ein Industriegebiet, über die Rollbahn eines Militärflughafens, dann einen Flusslauf unter den Krakenbeinen ebendieser Autobahn entlang, dass man das Wasserplätschern an der Schleuse nicht mehr hört, nur noch das Schwum schwum schwum der Autos und des Schwerverkehrs, der mal über einen, mal neben einem und mal auf zwei Spuren geleitet rechts und links von einem auf Luzern zurollt. Ich ging durch diesen verwundeten Wald, fast ärgerlich über die Leute, die hier das eh schon magere Stück abholzten, bis ich auf den Lotharsteg traf und endlich kapierte, dass das Abholzen wohl nicht einer regionalen Kurzsichtigkeit zu verdanken ist. Der Steg war von den Förstern als eine Art Memento Mori gedacht. Der Orkan Lothar, der 1999 mit 160 Stundenkilometern in diesem Wald und auch in weiten Teilen des Schwarzwalds gewütet hatte, hatte an manchen Stellen mehr als die Hälfte der Bäume umgerissen. Um die Folgen dieses Orkans und den langsamen Verfallprozess der umgerissenen Bäume zu zeigen, hatte man diesen Steg über ein Teilstück des Waldes gebaut, in dem man alles so ließ, wie es der Orkan hinterlassen hatte. Ich ging über die wie Mikadostäbchen übereinander geworfenen Baumriesen, an deren aus der Erde gerupften Wurzelballen vorbei und nach mittlerweile neun Jahren waren die Stämme fast gänzlich unter Brombeerhecken, Moosen, Pilzen und Büschen begraben und der Borkenkäfer, der auf einer Lehrtafel als ein nützlicher Fresser eingeführt wurde, hatte ein üppiges Mahl zu vertilgen. Ein paar Tage nach dem Orkan Lothar, erinnerte ich mich, war ich mit meiner Schwester durch den Schwarzwald spaziert. Der schmale Waldweg über ihrem Wohnviertel war kaum noch passierbar gewesen. Wir mussten über umgefallene Bäume springen oder unter quer liegenden Stämmen durchkriechen. Und dann waren jahrelang diese aufgestapelten Baumstämme auf der gegenüberliegenden Talseite zu sehen gewesen, die mit Wasser gesprengt wurden, damit sie länger frisch blieben, wie man mir sagte. Das Holz war natürlich gar nichts mehr wert gewesen, aber dem Borkenkäfer überlassen wollte man es nicht. Man versuchte es zu konservieren, bis der Preis sich wieder erholt hatte.

Einen Tag, nachdem ich von dem Wald hinterm Huobenfang geschrieben hatte, ging ich mit D noch einmal hinein und er erklärte mir, dass man die Bäume an der Schlucht fällen würde, weil sie zu schwer geworden und den Hang hinuntergerutscht seien. Man habe mittlerweile erkannt, dass es nicht auf Biegen und Brechen darum gehen kann, diese Bäume stehen zu lassen, man müsse sie fällen, um leichteren Bewuchs am Hang anzupflanzen.

Auch mit der Autobahn konnte ich einen gewissen Frieden schließen, als D mir sagte, dass sie entlang der alten Nord-Süd-Verbindung verliefe, die früher über den Gotthard, heute durch den Gotthardtunnel, von Deutschland über die Schweiz nach Italien, führe und dass diese Verbindung die Hauptschlagader der Schweiz sei und die Schweiz überhaupt erst dadurch Bedeutung erlangt habe. Was kann man gegen eine Hauptschlagader auch noch hervorbringen? Außerdem habe ich gestern bei unserem wunderschönen Ausflug nach Sarnen/Langis gesehen, dass schon ein Tal weiter, an einem Seitenarm des Vierwaldstätter Sees entlang, es gar keine Autobahnen mehr gibt, nur noch die Bahnlinien, mit den komfortablen Schweizer Bahnen.