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Ich war weg

Veröffentlicht am 09.09.2015

Ich war weg. Wo warst du? In den Ferien. Bei meiner Mutter. Mit meinen Freunden. Ich war nicht weit weg, aber sehr. Mein Leben ist sonst nicht so. So menschennah. So reich an Küssen und Umarmungen.

Und gemeinsamem Geschirrgeklapper. Ich wünsche mir das dann immer sehr. Diese Nähe. Ich laufe eine ganze Weile mit diesem Drang danach herum. Wochen Monate lang. Und dann möchte ich es haben. Und dann habe ich es und bin weg. Rausche an mir selber vorbei. Je mehr ich von den Anderen, den Geliebten, aufzunehmen versuche, von ihren Gesichtern und Geschichten, ihrer Augensprache, ihren Körpergerüchen, von ihren Bewegungen, umso mehr tritt etwas von mir zurück, was davor ganz groß, wenn auch undeutlich war. Ich bin dann ganz Trichter. Ein Trichter über einem großen Fass. Ein großes Fass über einem großen Tank. Denn unermesslich komplex ist ein jeder geflochten und ich platze vor Interesse, kriege nie genug davon, ich möchte jeden Menschen wie mich selber verstehen. Wie dich selbst? Ja, wenigstens in demselben jämmerlichen Maße. Wie viel Zeit habe ich dafür? Wie viel Zeit haben wir überhaupt um uns kennen zu lernen? Um uns vage zu begreifen? In diesen Ferien, die immer zu kurz sind. Und dann danach, zwischen den Ferien, in der Leistungserbringungszeit, in der das Leben den Puls steuernden Uhrzeigern folgt. Wie kann ich begreifen, was mein Kind in der Schule erlebt hat? Wie kann ich verstehen, was mein Mann jeden Tag bei seiner Arbeit erfährt? Erzählen sie es, so habe ich hoffentlich ein halbes Ohr, um es, während ich koche oder den Spüler einräume, zu hören. Ein ganzes, nein ein ganzes Dutzend Ohren wollte ich deshalb haben, in diesen Ferien, mit meinen beiden, den Nächsten um mich, und all den anderen, die ich viel seltener sehe und trotzdem sehr liebe und von deren Nähe ich nicht genug kriegen kann. Für ein paar Tage habe ich ihre Geschichten und Stimmungslagen, die Gesten und ihre Augen (allein diese Augen von jedem, unfassbar!), das Fremde und Neue, Rätselhafte und Schöne in mich hinein getrichtert, bis ich randvoll war. Bis ich ganz voll und ganz schwer war und das Bedürfnis nach ruhigem Verdauen entstand, nach Rückzug und Abstand. Dann kroch ich zurück, wieder näher an mich, die alte Bekannte heran, fühlte die Fülle und Leere in mir, bis ich es, was letztlich banal ist, verstand: Ich würde, was ich am meisten genieße, auf Dauer nicht aushalten können. Die Nähe zu meinen Geliebten, wären sie alle und ständig um mich, würde den Drang danach wahrscheinlich gründlich vernichten. Ich würde sie alle nur aushalten können, indem ich mich ihnen auch wieder entzöge. Und dieses Bedürfnis nach wortlosem Rückzug und Abstand, nach mitteilungslosem Beisichsein hätten ja alle, gar nicht nur ich. Wir müssen uns alle, so wie wir gemacht sind, auch wieder verschließen und ferner und fremder sein können.