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Ich möchte nicht schreien

Veröffentlicht am 05.09.2018

Das Leben wäre nicht auszuhalten, hätte ich solche Sätze nicht, die mir andere Satzmeister geben: VIELES VERDANKE ICH DENEN, DIE ICH NICHT LIEBE(1). Wie könnte ich es sonst ertragen, was an Hass und stumpfer Verachtung immer grobschlächtiger auf die Straße geht? Jeden Tag....

...

Hätte ich die Worte der anderen Worteabwäger nicht, ich würde verkümmern, am Entsetzen ersticken. HEIMAT IST DAS, WAS IN EINEM NICHT STERBEN KANN. EINE ILLUSION, DIE AUCH DANN NICHT VERSCHWINDET, WENN MAN NICHT MEHR AN SIE GLAUBT. (2) Das ist so ein Satz, von dem ich zehre und lebe.

 

Keinen einzigen weiteren Tag der Verrohung könnte ich unbeschadet überleben, diesen Absturz ins Primitive, der schon in mehreren Ländern regiert. Wer könnte uns denn morgen entnazifizieren? Es gibt den großen edleren Bruder nicht mehr.

 

Gäbe es die Sprachensucher oder ihre Werke nicht mehr, ich wäre verloren und gäbe es auf, nach eigenen Anderssätzen zu suchen. UND BEVOR DU DIE SONNE EINLÄSST, SIEH ZU, DASS SIE SICH DIE SCHUHE ABPUTZT. (3) Ich könnte nicht mehr lächeln über die Schwächen der Menschen, ich würde den Zugang zu meinem Optimismus und meiner Liebe, die größer als meine Bedürftigkeit ist, wahrscheinlich verlieren.

 

Ich würde genauso verachten und ebenso hassen.

 

Oder ich würde an dieser Verrohung auf den Straßen verzweifeln.

 

Oder ich würde dann irgendwann als erste schreien, bevor man mich anschreien kann.

 

Es sind ja nicht nur die Rechten, die Rechtsradikalen und Rechtsnationalen. Schon seine Bahnen in einer Schwimmhalle zu ziehen, kann zu einem Verdrängungskampf führen. Schon mit dem Fahrrad durch seine Stadt zu fahren, verschafft einem Begegnungen mit Drohgebärden, wuterfüllten Blicken und Zurechtweisungen. Das beinahe tagtäglich. Der Aggressionspegel steigt wie ein Fluss bei anhaltendem Regen. Ein Gespräch gibt es selten, häufiger sind erhitzte Wortwechsel, Verständigung findet nicht mehr statt. Missverständnisse werden nicht ausgeräumt, schon gar nicht entschuldigt. Wortführend ist sogleich ein Empörtsein, man weist sich die Schuld zu, man weist sich zurecht, man wird beschimpft. Immer der andere ist ein Affront, immer der hat eine Regel, eine Ampel, einen Streifen, ein ungeschriebenes Gesetz (nirgends zu finden) nicht beachtet.

 

Ich sollte mich im Schwimmbecken körperlos bewegen, ich sollte mir endlich einen Helm besorgen. Es sind wahrhaftig gefährliche Zeiten.

 

Aber damit werde ich nur verhindern, nicht auf der Stelle an einem Schädelhirntrauma zu sterben. Der innere Tod, die Resignation, das Abstumpfen, das Erkalten und Verhärten kann in meinem Fall nur durch die Kraft der Literatur verhindert werden. Das wird mir in diesen Tagen bewusst.

 

Danke Wislawa Szymborska für deine Gedichte (1)

Danke Ilja Trojanow für deinen Band "Nach der Flucht" (2)

Danke Dylan Thomas für dein Spiel für Stimmen (3)

 

Und Danke an alle unter euch, die mich erweckten und dafür sorgen, dass mein Blick trotzig wach und ungetrübt bleibt und nach dem Unteilbaren zwischen uns, nach dem Gemeinsamen weiterhin sucht.