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Splitter

Veröffentlicht am 14.04.2022

Es ist okay, dass ich Musik höre, wenn ich das andere nicht mehr ertrage. Auch Auwa hört Musik, unten im Garten, und sie malt diese Bilder mit dem Weizenfeld, dem blauen Himmel darüber und dem großen Herz aus weißen fliegenden Tauben.

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Es ist gut, das zu wissen, denn wenn Krieg ist, braucht man eine neue Orientierung. Was gestern noch gut war, ist heute schlecht.

 

Schalt den Fernseher ab, sage ich täglich zu meiner Mutter, deren Freude am Leben mit dem wachsenden Grauen der Nachrichten abnimmt. Sie rauben ihr die verbliebenen Kräfte.

Ich rede auf sie ein: Es nutzt ihnen nichts, wenn es dir schlecht geht. Dir muss es nicht schlecht gehen, nur weil es ihnen schlecht. Du musst nicht sterben, nur weil sie getötet werden. Auch den Toten hilft dein Mitleiden nicht.

 

Wir wohnen aristokratisch, sagte Auwa, und fotografierte Details unserer Wohnung. Aber nein, sagte ich, meine Schwiegermutter nennt es studentisch, was so viel heißt, wie: Nicht richtig. Schau her, diese Würfel, dieses zerkratzte Bücherregal. Soll ich Auwa erklären, was MDF ist?

 

Weiße Teller, Kerzen in gelb und blau, Besteck und Servietten, und das alles auf Tischsets. Ein schön gedeckter Tisch, ja, das schon. So decken wir für Gäste. Für Auwa und Marya ist es eine festliche Tafel. Wann habe ich das letzte Mal so gegessen?, fragte sich Marya. Silvester 21?

 

Der Junge und seine kleine Schwester schaukeln unten im Garten. So ausgiebig wie sie hat aus unseren Häusern schon lange kein Kind mehr in unserem Garten geschaukelt. Sie schaukeln sich den Kopf frei, sie schaukeln, als würden sie das Schaukeln gerade für sich entdecken, sie schaukeln, bis sie lachen. Der Junge will immer höher hinauf, das Mädchen schaukelt zu ihm hin und wieder weg, zu ihm hin und wieder weg. Sie kichern und spielen Fangen mit den Schaukeln, bis etwas am Himmel, ein Knattern, sich nähert. Der Junge springt herunter, rennt auf den Rasen und sucht, fluchtbereit, den blauen Himmel ab. Ein Hubschrauber fliegt dort über ihn hinweg, entfernt sich, ohne Verderben auf ihn zu werfen, entfernt sich Richtung Spree.

 

Mein Schweizer Freund lässt sich nicht beirren. Er hat den Kriegsdienst verweigert, in der Schweiz deswegen in Haft gesessen. Er hat mit Krieg nichts am Hut, wie die meisten Männer, die ich kenne. Mein Freund denkt deshalb über Widerstand nach, über sozialen, über einen ohne Waffen. Er schickt mir Links, ein Gespräch mit Harald Welzer, ein Interview mit der Pazifistin Christine Schweitzer, aber nichts überzeugt mich. Der Generalstreik beim Kapp-Putsch. Die friedliche Revolution in der DDR. Der Sturz Marcos auf den Philippinen. Das sind die Beispiele, die Schweitzer zitiert. Aber nichts ist doch vergleichbar, nichts übertragbar. Trotzdem tut es gut, einen Abend lang darüber nachzudenken, nach Alternativen zum Verteidigung mit Waffen zu suchen. Ich greife nach jedem Zipfel der Hoffnung, denn die Forderung nach Waffen ist verständlich, doch sie treibt uns vor sich her.

 

Wir schauen uns mit unserer Tochter SEVEN VERSUS WILD an. Sieben junge Männer, die sich als Influencer auf Youtube einen Namen machen wollen, tun sieben Tage so, als ginge es bei ihnen ums nackte Überleben. Man hat sie in Nordschweden ausgesetzt, und abgesehen von Bären, die allerdings nur als eine Spur sichtbar werden, droht ihnen Regen, Durst und Hunger und die Kälte der Nacht als Lebensgefahr. Sie filmen sich beim Heidelbeeren sammeln, beim Lagerbau, beim Bau eines Floßes, bei der vergeblichen Suche nach Würmern, beim Zunderholz sammeln, beim Bäume Fällen, beim Frieren in der Nacht, und unsere Tochter, ein Pfadfindermädchen, sieht ihnen bei all dem lernbegierig zu, weil sie sich bald in einem Waldkurs irgendwo in einem Brandenburger Wald bewähren muss. Währenddessen herrscht Krieg, doch wir schalten nicht um, zur Kriegsberichterstattung, wir machen es nicht, unserer Tochter zuliebe, so absurd es auch ist, dem inszenierten „Überleben in der Wildnis“ zuzusehen.

 

Gestern habe ich eine dicke Schicht Staub hinter dem vorgezogenen Regalschrank weggesaugt. Den Staub von zwölf Jahren. Den Staub der guten Jahre, nannten wir ihn und hätten ihn am liebsten geküsst.